Sommerreise 2018

Osnabrück. Risse in der Erinnerungskultur? Ein beschädigtes Werk der niederländischen Bildhauerin und Malerin Truus Menger-Oversteegen, Gedenkstätte Augustaschacht
Osnabrück. Risse in der Erinnerungskultur? Ein beschädigtes Werk der niederländischen Bildhauerin und Malerin Truus Menger-Oversteegen, Gedenkstätte Augustaschacht. (© Waske)

Vor dem Vergessen bewahren - Eine Erinnerungskultur für eine starke Demokratie


Landtagspräsidentin besuchte auf Sommerreise niedersächsische Gedenkstätten

Wie werden wir in 20 Jahren an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnern? Dann, wenn uns Zeitzeugen nicht mehr aus eigenem Erleben berichten können? Wie kann eine lebendige Erinnerungskultur aussehen, die auch die jüngeren Generationen einbezieht? Was kann an historischen Orten gelernt werden, was können Gedenkstätten leisten und wo liegen die Grenzen? Antworten auf diese Fragen wollte Landtagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta auf ihrer Sommerreise finden: Die Reise führte sie zu sechs Stätten der Erinnerung – vom südniedersächsischen Moringen bis nach Esterwegen ins Emsland.

Sie resümiert: „Die Reise zu den Orten der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus hat mich tief bewegt. Mir ist bewusst geworden, wie wichtig und unersetzbar diese konkreten Orte zum Gedenken an die Opfer und ihr Leid, aber besonders auch als Mahnmale für die Nachgeborenen sind. Ich bin beeindruckt von der hoch engagierten Arbeit der niedersächsischen Gedenkstätten: Es gelingt ihnen in vielfältiger Weise den Nationalsozialismus und Holocaust in seiner Durchdringung der Gesellschaft und des Alltags der Menschen historisch verständlich zu machen und eine Brücke zur Gegenwart zu schlagen. Auch heute begegnet uns wieder offen Antisemitismus, Ausgrenzungen und Fremdenfeindlichkeit, dem wir uns als Demokraten entgegenstellen und Zivilcourage entwickeln müssen. Die Gedenkstätten als Erinnerungs- und Lernorte leisten einen wertvollen Beitrag dazu. Wir sollten noch mehr Orte der konkreten, historischen Erinnerung haben.“

Moringen. Die Präsentation „Ankunft im Lager“ nutzt Video- und Audiobeiträge
Moringen. Die Präsentation „Ankunft im Lager“ nutzt Video- und Audiobeiträge. (© Waske)

Andretta unterstrich: „Es war mir ein großes Anliegen, mit meiner ersten Reise die wichtige Arbeit der niedersächsischen Gedenkstätten als Erinnerungs- und Lernorte zu würdigen.“Die Orte spiegeln wieder, wie tief das Unrechtsregime des Nationalsozialismus den Alltag der Menschen prägte, wie sich das Verbrechen in der nächsten Umgebung der Menschen abspielte und wie umfangreich die Verfolgung war: Sie umfasste Andersdenkende wie Andersgläubige, Homosexuelle und Kranke. Machte vor Kindern und Jugendlichen nicht Halt. Brachte Frauen, die sich in einen Juden verliebt hatten, beispielsweise ins KZ in Moringen. Im Strafgefängnis Wolfenbüttel wurde eine Frau hingerichtet, weil sie nach einem Bombenangriff einen Koffer der Nachbarin gestohlen hatte. Zum Opfer zu werden, das zeigte die Reise, dazu brauchte es wenig.

Gerade die frühe Phase des Nationalsozialismus rückte mehrfach in den Mittelpunkt der Reise: Konzentrationslager entstanden bereits wenige Monate nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, so in Moringen im April 1933. Sie sollten die Herrschaft festigen. Die ersten Häftlinge waren politische Gegner. Beispielsweise waren vier spätere niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete bereits 1933 in Moringen und in Esterwegen inhaftiert.

Esterwegen. Die Dauerausstellung erinnert auch an die Haftzeit von Georg Diederichs, den SPD-Politiker, niedersächsischen Landtagsabgeordneten, Sozialminister und Ministerpräsidenten
Esterwegen. Die Dauerausstellung erinnert auch an die Haftzeit von Georg Diederichs, den SPD-Politiker, niedersächsischen Landtagsabgeordneten, Sozialminister und Ministerpräsidenten. (© Waske)

Dass die Verbrechen nicht willkürlich geschahen, sondern mit Gesetzen und Verordnungen, das machte der Besuch der Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel deutlich. „Die Justiz half 1933 bei der Ausschaltung der Opposition, der Gegner des Regimes“, stellte Martina Staats, Leiterin der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel, fest. Die Bevölkerung war durchaus im Bild über die Verbrechen: In Moringen lag das KZ mitten im Ort. Zahlreiche Firmen belieferten das Lager in Bergen-Belsen oder das in Ohrbeck (Hasbergen), den Augustaschacht, bei Osnabrück mit Baustoffen oder Lebensmitteln. Die Emslandlager, in denen Häftlinge das Moor trockenlegten und somit Land urbar machten, verstanden die Verantwortlichen als „hilfreiche Wirtschaftsförderung“. Dr. Dietmar Sedlaczek, Leiter der Gedenkstätte Moringen, berichtete gar von einem Preisausschreiben für einen Besuch im Lager. Sichtbar wurden die Gefangenen erst recht, als sie kurz vor Kriegsende 1945 auf den sogenannten Todesmärschen gen Bergen-Belsen unter anderem durch Winsen (Aller) kamen. Die Reise zeigte ebenso, wie falsch die Annahme ist, alle wichtigen Fakten über den Nationalsozialismus seien bereits bekannt. Zahllose Schicksale von Gefangenen in den Lagern im heutigen Niedersachsen sind beispielsweise immer noch nicht geklärt. Fast täglich erreichen die Gedenkstätten Anfragen – nun von der zweiten und dritten Generation.

Winsen (Aller): (v. l.) Julius H. Krizsan, Heinrich Mangels, Bürgermeister Dirk Oelmann, Dirk Burghardi, Allgemeiner Vertreter des Bürgermeisters und Dr. Gabriele Andretta
Winsen (Aller): (v. l.) Julius H. Krizsan, Heinrich Mangels, Bürgermeister Dirk Oelmann, Dirk Burghardi, Allgemeiner Vertreter des Bürgermeisters und Dr. Gabriele Andretta. (© Waske)

Die Präsidentin ermutigte die Mitarbeiter der Gedenkstätten, von der Kultur des Erinnerns die Brücke in die Gegenwart zu schlagen und neue pädagogische Wege zu gehen. Die Reise zeigte, welche unterschiedlichen Konzepte es bereits gibt (sehen Sie dazu bitte die Berichte zu den einzelnen Stationen). Teils gelingt den Pädagogen der Brückenschlag über Begriffe, die damals wie heute in Debatten fallen beispielsweise „das gesunde Volksempfinden“. Teils aber auch, indem die Besucherinnen und Besucher dank moderner Medien die Erinnerungen der Zeitzeugen per Video- oder Audiobeiträge nachvollziehen können. Diese Berichte dienen als Aufhänger, um sich vertieft mit den geschichtlichen Zusammenhängen zu beschäftigen. Der historische Blickwinkel der Ausstellungen weitet sich heute über die Jahre zwischen 1933 bis 1945 hinaus. So gut wie alle Lager wurden nach dem Zweiten Weltkrieg weiter genutzt: für entlassene Kriegsgefangene und Vertriebene oder als DP-Camp. Fragen, wie Gesellschaft und Justiz mit der Schuld umgingen oder wie sich das Gedenken entwickelte, greifen die Gedenkstätten auf. In Moringen und Wolfenbüttel ist der Gegenwartsbezug besonders deutlich, weil beide Erinnerungsorte an den heutigen Strafvollzug grenzen. Die Unterschiede zwischen der NS-Diktatur und dem demokratischen Rechtsstaat treten so deutlich zu tage.

Bergen-Belsen: Erinnerungen, die berühren – hier die Kinderschuhe von Lous Hoepelman, die einst als Kind im KZ in Bergen-Belsen war
Bergen-Belsen: Erinnerungen, die berühren – hier die Kinderschuhe von Lous Hoepelman, die einst als Kind im KZ in Bergen-Belsen war. (© Waske)

Um den Anforderungen der Gegenwart gerecht zu werden investieren die Gedenkstätten verstärkt in moderne Ausstellungsarchitektur und neue Medien. Zumal die Zeitzeugen bald nur noch per Video oder Tondokumente von ihren Erinnerungen berichten können. In Esterwegen konnte dies schon bei der Konzeption berücksichtigt werden, da die Gedenkstätte erst 2011 eröffnete. In Wolfenbüttel wird der Neubau der Dauerausstellung 2019 fertig, die Gedenkstätten in Osnabrück Gestapokeller und Augustaschacht stehen am Anfang der Erneuerung der Dauerausstellung. Unabdingbar seien ebenso geschulte Pädagogen, betonten alle Leiter der Gedenkstätten. Aktuell könnten sie die große Nachfrage mit ihrem Personal kaum abdecken. Diese Botschaft an die Politik, erklärte Andretta, wolle sie mit nach Hannover nehmen.

Die Reise

Wolfenbüttel: Lehrer Reimar Fröhnel, Dunja Kreiser und Dr. Gabriele Andretta am Multi-Touch-Tisch
Wolfenbüttel: Lehrer Reimar Fröhnel, Dunja Kreiser und Dr. Gabriele Andretta am Multi-Touch-Tisch. (© Waske)

Nur noch wenige können vom Schrecken des Nationalsozialismus aus eigenem Erleben berichten. Zeitzeugen sind hochbetagt. Wie kann in Zukunft die Erinnerungskultur aussehen? So dass auch die junge Generation sie annimmt und weitergibt? Wie die Gedenkstätten mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft umgehen, dazu können Sie sich auf den vertiefenden Seiten einen Eindruck verschaffen und die Reise nachvollziehen.