Bis 1945 war das Strafgefängnis Wolfenbüttel die zentrale Haftanstalt des ehemaligen Freistaates Braunschweig. Das Gefängnis war Teil der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Mordpolitik. Es zeigt beispielhaft die Radikalisierung der Justiz und des Justizvollzugs nach 1933: politische Gegner der Nationalsozialisten, jüdische Männer und Angehörige des Widerstands aus den im Krieg besetzten Gebieten waren hier inhaftiert. Zwischen 1933 und 1945 wurden, bei einer Gesamtbelegungsstärke von 950 Gefangenen, ungefähr 15.000 Männer in Wolfenbüttel festgesetzt. Bis 1945 wurden hier mindestens 527 Menschen hingerichtet.
Mehr Informationen unter: Stiftung Wolfenbüttel
Schon die Einladung zum Besuch der Gedenkstätte war besonders: Bitte, wenn vorhanden, Sicherheitsschuhe mitbringen, hieß es dort. Denn, ein Teil des Geländes ist aktuell eine Baustelle: 2019 soll das neue Dokumentationszentrum mit einer umfangreichen Dauerausstellung eröffnen (mehr zur Neugestaltung). Bisher mussten Besucherinnen und Besucher langfristig ihr Kommen anmelden, schließlich befindet sich die Erinnerungsstätte in einer Justizvollzugsanstalt. Auf deren Gelände – aber zugänglich von der Stadt – entsteht nun ein großer Neubau. Er soll ein Ort des Gedenkens und der Bildungsarbeit werden, umfasst neben der Dauerausstellung auch Seminarräume und ein Archiv.
Martina Staats, Leiterin der Gedenkstätte, begann ihren Rundgang mit der Landtagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta zunächst in den schon fertiggestellten Räumen in der JVA. Auch deshalb, weil diese der Arbeit mit Schulklassen dienen und die Gedenkstättenpädagogik im Mittelpunkt der Reise stehen sollte. Schon jetzt haben Schülerinnen und Schüler viele Möglichkeiten, mehr über die Justiz im Nationalsozialismus zu erfahren, machte Staats deutlich.
„Wir wollen mit unserem Lernort die Frage vermitteln: Was können wir für das Heute mitnehmen?“
Martina Staats, Leiterin der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel
Zu Beginn ihres Besuches können die Jugendlichen beispielsweise auf einem Tisch Themenkarten auswählen, die sie interessieren - darunter die Karrikatur eines norwegischen Häftlings. Der an die Gedenkstätte abgeordnete Lehrer Reimar Fröhnel erläuterte das Konzept: Jede und jeder fühle sich von einem anderen Bild angesprochen, das stelle einen persönlichen Bezug her, der den Einstieg ins Gespräch erleichtere. Oder es führe in die Recherche ein – beispielsweise zu dem norwegischen Häftling.
An sieben Multi-Touch-Tischen können sich die Schülerinnen und Schüler dann selbstständig über die Geschichte des Gefängnisses informieren. Dabei erfahren sie mehr über die Lebenswege und Schicksale der Häftlinge. Möglich ist dies, weil mit der Erweiterung der Gedenkstätte weitere Forschung finanziert wurde. Noch ist mitnichten alles bekannt, machte auch die Leiterin Staats deutlich: Ihre Recherchen umfassten beispielsweise auch die Opfer des Paragrafen 175, der Homosexualität unter Männern auch noch in der Bundesrepublik unter Strafe stellte, ein Thema, das bisher wenig erforscht sei.
Dann ging es hinaus auf den Gefängnishof zum ehemaligen Hinrichtungsgebäude. In dem Komplex wird die Geschichte der 527 Todesurteile von 1937 bis März 1945 erzählt – die der Opfer, aber auch die des Scharfrichters. Vielen Familien, berichtete Staats, sei die Aufarbeitung dieses Kapitels schwer gefallen. Auch, weil ein Gerichtsurteil Grund für die Hinrichtung gewesen sei. Über deren unrechten Charakter aufzuklären, sei sehr wichtig für den Erinnerungsprozess gewesen.Schließlich hätten kleine Vergehen, wie Plünderungen nach Bombenangriffen, dafür ausgereicht.
214 der Toten wurden nach Göttingen in die dortige Anatomie gebracht – zu Lehr- und Forschungszwecken. An diese Opfer, so Staats, solle in Zukunft mit einem Denkmal auf dem Hauptfriedhof in Wolfenbüttel gedacht werden. Bei der Gestaltung hätten sie ganz bewusst Jugendliche eingebunden: Mit der Stadt Wolfenbüttel und dem MAN-Werk Salzgitter hätten sie zu einem Schülerwettbewerb aufgerufen. Staats freute sich über eine große Resonanz. Es wurden insgesamt 33 Entwürfe von vier Schulen aus Wolfenbüttel und Braunschweig für einen Gedenkort eingereicht, zwei gewannen den ersten Platz. mehr dazu
Zum Abschluss des Besuches hieß es dann die Helme aufsetzen: Karl-Michael Heß vom Staatlichen Baumanagement Braunschweig führte die Landtagspräsidentin über die Baustelle. Im September soll Richtfest sein. Im Zentrum der neuen Dauerausstellung wird die Geschichte der Justiz und des Strafvollzugs im Nationalsozialismus stehen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedenkstätte haben bereits zahlreiche neue Exponate und Dokumente aus Archiven und Sammlungen im In- und Ausland zusammengetragen. Aber auch Familienangehörige übergaben Unterlagen und Erinnerungsstücke. Die Ausstellung soll auch Kontinuitäten und Brüche nach 1945 aufzeigen – während der Zeit der britischen Besatzung und nach Gründung der Bundesrepublik – erläuterte Staats.
Im Eingang der Ausstellung werde der Gast zunächst etwas zum Strafvollzug heute erfahren. Dann gehe es über eine „multimediale Zeitschleuse“ in den eigentlichen Ausstellungsteil. In der Schleuse würden die Besucherinnen und Besucher auf die Zerbrechlichkeit der eigenen Grundrechte aufmerksam gemacht. Der Hauptteil solle sich in fünf Themen gliedern, zur Erinnerungskultur, zur NS-Zeit, zu den Hinrichtungen, der Phase der britischen Besatzung und zum Strafvollzug der frühen Bundesrepublik. Zeitzeugeninterviews seien dabei ein wichtiges Element. Sie sollen per Video oder Hörbeitrag eingebunden werden. Darunter soll auch ein Beitrag sein, den Staats am Ende des Besuchs vorstellte: Ein aus der Haft in Wolfenbüttel entlassener Rot-Front-Kämpfer aus Braunschweig wird von dem britischen Sender BBC bei seiner Rückkehr nach Hause begleitet – ein bewegendes Stück, das im Kopf bleibt.